Nichts ist schöner als Ehrlichkeit. Ehrlichkeit ist die Basis jeder Freundschaft. Dies sind zwei Weisheiten unbekannter Quelle, wie sie mir immer wieder in den sozialen Medien begegnen. Hashtag Leben.
Doch ist Ehrlichkeit das was wir wirklich wollen?
Ich arbeite seit 25 Jahren im Gesundheitswesen, und die Frage „Wie geht es Ihnen?“ wurde für mich nie zu einer lapidaren Floskel. Warum? Nun … eines Tages klopfe ich an die Tür eines Behandlungszimmers, trat ein und sagte gut gelaunt, doch vielleicht etwas überschwänglich: „Guten Tag! Wie geht es Ihnen?“ Die Patientin hatte gerade eine kräftezehrende Chemotherapie hinter sich und sah mich durch erschöpfte Augen an. „Interessiert Sie das wirklich?“ Ich stockte und sagte verhalten: „Ja!“ – „Wissen Sie, ich habe während meiner Erkrankung gelernt, dass Menschen ganz oft diese Frage stellen, aber sich nicht ehrlich für meine Antwort interessieren.“ Stille. „Ich sage dann meistens gut, weil ich weiß, dass sie diese Antwort erwarten und für mehr sowieso keine Zeit haben.“ In diesem Moment hatte ich durchaus ernsthaftes, wenn auch primär berufliches Interesse an ihrer Antwort, doch ich fühlte mich durch ihre unerwartete Ehrlichkeit erwischt. Sie hatte recht, denn manchmal fragen wir: „Na, gehts gut?“ und liefern dem Gegenüber die Antwort auf unsere Frage schon mit.
Brauchen wir für unsere Ehrlichkeit Mut?
Um einem Fremden auf einer Party zu sagen, wie gut er heute Abend aussieht, braucht vermutlich keinen Mut. Doch was, wenn der Reißverschluss seiner Hose komplett offen steht und man deutlich seine weiße Baumwollunterwäsche erkennen kann? Wir zögern. Es wird sich schon jemand finden, der es ihm sagt. Doch warum sind wir es nicht?
Wann ist Ehrlichkeit gutgemeint? Und wann ist sie verletzend?
„Jetzt sag’ doch mal ehrlich!“ fährt mich eine Freundin schroff an. Ihre Augen füllen sich bereits mit Tränen. Ich könnte ihr jetzt schmeicheln und in Komplimenten das verpacken, was sie hören will. Ich könnte mich für die Sonnenseite der Ehrlichkeit entscheiden, denn auch diese wäre wahr … und für uns beide bequem.
Oder ich entscheide mich für den anderen Weg der Ehrlichkeit. Worte, die vielleicht ihre Tränen weiter locken und dafür sorgen, dass wir noch stundenlang weiterreden. Sie wütend auf mich wird und sich womöglich sogar völlig missverstanden fühlt. Dies ist sicherlich für uns beide unbequemer und anstrengender, doch wenn wir uns darauf besinnen, dass Liebe, Vertrauen, Respekt unsere Basis ist, dann ist diese Art von Ehrlichkeit mit das Beste, was uns in unserer Freundschaft passieren kann.
Ehrlichkeit ist immer eine Entscheidung, die wir stets selbst treffen.