Mathilde.

„Würden Sie mir Ihre Telefonnummer geben? Vielleicht schreibe ich Ihnen mal eine Nachricht. Sie müssen dann auch nicht antworten, es reicht mir, wenn ich die beiden blauen Haken sehe.“

Mathilde* und ich kennen uns bereits ein paar Jahre. Jedoch hatten wir nie zuvor Zeit, um uns länger zu unterhalten. Da war ihre sehr alte und pflegebedürftige Mutter, das Auto abholbereit in der Werkstatt, der ungeduldig wartende Heizungsableser oder ein wichtiger Anruf bei der Krankenkasse.

Mathilde wurde 1949 geboren. Ohne sie genau zu kennen, wusste ich schon beim Einspeichern meiner Nummer in ihr Telefon, dass sie sicherlich so einige Geschichten zu erzählen hat. Vielleicht Geschichten von einer glücklichen und unbeschwerten Liebe, vielleicht von einer besonderen Begegnung auf ihrer Lieblingsinsel in Spanien. Ganz sicher gab es in mehr als 70 Jahren Leben aber auch Traurigkeit, Abschiede, Ärger und Wut. Eben alles, was ein Menschenleben so mit sich bringt. 

Noch am gleichen Abend erhielt ich ihre erste Nachricht. Ein glitzerndes Bildchen mit einem lieben Gruß zur Nacht. Am nächsten Tag folgten ein, zwei, fünf solcher Nachrichten. Erst fiel mir nichts ein, was ich darauf antworten könnte, doch nur die Sichtbarkeit der zwei blauen Haken als Lesebestätigung genügten mir nicht. Also schrieb ich, was mir in den Sinn kam. 

Doch schnell stellte ich fest, Mathilde hatte kaum eigene Worte, und das Verschicken von Bildern mit Zitaten, gesellschaftlichen Provokationen oder gute Nacht Wünschen war ihre einzige Art der Kommunikation. Und die für mich so bedeutungslosen blauen Haken akzeptierte sie als eine stillschweigende Antwort. Sie waren ihr stets genug. Manchmal schickte ich ihr ein Foto vom Meer oder einen meiner Texte, doch sie antwortete nur selten und wenn dann norddeutsch knapp. 

Im Herbst letzten Jahres trafen wir uns auf einen Kaffee beim Bäcker nebenan. Ihre Geschichten vom Glück und Unglück blieben aus, denn obwohl Mathilde zu diesem Zeitpunkt schon schwer lungenkrank war, rauchte sie Zigarette um Zigarette. An, aus, an, aus, während ihre Lunge parallel dazu pfiff und rasselte. Es schien, als wären die Zigaretten der letzte Halt, den sie in diesem Leben empfand, und es war nicht mein Recht, diesen durch Belehrungen lösen zu wollen. Allerdings fehlte ihr dadurch alle notwendige Luft zum Erzählen ihrer erlebten Höhen und Tiefen und aller endlosen Gedanken. 

Seit Anfang Februar schickt Mathilde kaum noch Nachrichten. Aus Glitzerbildern und so mancher abgebildeten politischen Unkorrektheit sind ernst zunehmende Diagnosen geworden. Durch Mathilde hab ich gelernt, dass Kommunikation für jemanden auch heißen kann, einfach nur stillschweigend dazu sein.

… und ich wünschte, die beiden Haken meiner vor Tagen geschickten letzten Nachricht würden endlich blau werden.


* Name geändert / Foto dient als Symbolbild

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