Hubert, die Bundeskanzlerin und ich.

Es war November. Mutter Naturs buntes Herbstkleid hatte sich wie ein farbenfroher Teppich ausgebreitet. Ein Krähenpärchen zankte sich lautstark, während die kleinen Spatzen ihnen das Futter stahlen. Ich saß auf einer Parkbank direkt vorm Bundeskanzleramt. Menschen, das Hauptstadtleben und meine eigenen Gedanken beobachtend.

Nach 30 Minuten begann ich zu frieren und auf meinem Block stand lediglich:

Buntes Laub, Mülleimer voll von der letzten Nacht, Polizei läuft Streife, Touristen-Selfie-Wahnsinn, vermutlich keiner da, Handyakku leer, zwei Krähen?, zwei Raben? (ich konnte die Tiere noch nie unterscheiden)

Schnell begann ich diesen doch eher langweiligen Morgen mit meiner eigenen Fantasie zu füllen. Wie wäre es, wenn ein älterer Herr, mit schlürfendem Gangbild, sich zu mir auf die Bank setzen würde? Worüber würden wir sprechen? Über Politik? Über die Kanzlerin? Über Altersarmut und Rentenvorsorge? Über Flüchtlinge? Über Trump und Clinton? Über selbst gemachten Kartoffelsalat?

Ich sah von meinen Notizen hoch und erblickte direkt am Zaun des Kanzleramtes einen älteren Herrn in leuchtend gelber Regenjacke, gelbes Basecap und einem Sportkinderwagen als Gehwagen umfunktioniert. Genauso könnte er aussehen.

„Entschuldigung, darf ich Sie mal was fragen?“ Ich blickte auf und traute meinen Augen kaum. „Natürlich.“ entgegnete ich dem Mann in seiner gelben Regenjacke. „Wissen Sie, was diese Linie hier auf dem Boden bedeutet? Ich dachte ja, das wäre der Verlauf der Mauer, aber die Linie endet vor der Haustür von Frau Merkel. Da wollte ich jetzt auch nicht klingeln.“ Wir mussten beide lachen. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

 

Er fragte mich „Was machen Sie denn hier?“ – „Ich versuche einen Text zu schreiben, aber vermutlich wird nicht mehr dabei rauskommen, als das die Kanzlerin auch morgens und abends Zähne putzt. Und das ich vor 5 Minuten aufgeschrieben habe, dass sich ein älterer Herr neben mich auf diese Bank setzt und Sie nun hier sitzen … das glaubt mir keiner.“

Hubert ist 82 Jahre. Schwabe. Schuhmachermeister. Legastheniker. Witwer. Weltenbummler. Und nach seiner eigenen Aussage ein Spinner. Er ist morgens mit dem Bus nach Berlin gereist und wohnt in einer Jugendherberge. Er möchte 14 Tage in der Stadt bleiben. Nennt sich selbst Gast in Berlin, nicht Tourist. Mit dem Zug fährt er nicht. „Der bringt den Tod.“, hatte seine Mutter ihm immer gesagt. Sein Vater war ein Nazi. Er erzählte mir, dass Menschen oft denken er wäre obdachlos und seine Kinder ihn aus diesem Grund bitten, sich mehr äußerlich zu pflegen.

„Die Menschen sagen immer, es wäre eine Schande, dass das Mädchen mir keine Wohnung gibt! – Aber warum soll sie auch? Ich hab doch eine!“

Mit „das Mädchen“ meint er die Bundeskanzlerin und aus seinem Mund klingt der aus der Ära Kohl übernommene Titel zu keinem Zeitpunkt despektierlich. Ganz im Gegenteil. Er nennt die Kanzlerschaft von Angela Merkel einen „Sieg der Gerechtigkeit“. Und obwohl Hubert nicht mit jeder politischen Entscheidung der letzten 11 Jahre einverstanden ist, spricht er respektvoll über diese Entscheidungen und vor allem über sie als Person … über sie als Frau. Seine Hände formen dabei immer wieder und ganz unbewusst die Raute, was mich schmunzeln lässt.

Wir saßen bereits seit über einer Stunde gemeinsam auf der Parkbank. Er erzählte von Zeiten Kohls und Schröders, er sinnierte über Steinmeier und Charles de Gaulle. Er hatte mal mit jemandem von der SPD telefoniert, dessen Namen er vergessen hatte und er weiß bis heute noch genau, was er am Tag des Mauerbaus, aber auch am Tag der Wiedervereinigung getan hatte. Illegal geangelt.

Da unsere Hände mittlerweile schon blau von der Kälte waren, ich aber glaubte Huberts Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt, bat ich ihn mich in ein nahe gelegenes Café zu begleiten. „Ich lade Sie ein!“ sagte ich, doch Hubert blieb sitzen. „Ich komme nur mit, wenn ich Dich einladen darf!“ sagte er bestimmend. Wir verhandelten darüber noch 2x und dann gab ich auf.

Vor dem Gebäude des Deutschen Bundestages blieb er plötzlich wieder stehen. Er reichte mir seine Hand und sagte: „Ich bin der Hubert.“, dass ich ihn zwar nun Hubert nannte, ihn allerdings weiterhin siezte, gefiel ihm nicht. Es ist ganz schön schwierig jemanden in so hohem Alter zu duzen…doch auch das gelang irgendwann.

Das Café war ein Selbstbedienungsladen und Hubert bekam kurz Angst. Er wurde erst vor Kurzem an den Augen operiert und dann all diese neumodischen Kaffeemaschinen zu bedienen … als Legastheniker … eine Herausforderung. Ich übernahm das. Wir ließen gemeinsam die Tassen mit Kaffee volllaufen und stapelten Erdbeerkuchen auf unseren Tellern. Er bezahlte.

Wir saßen zwei weitere Stunden in diesem Café. Ich lernte so viel über das Leben, über Politik, über die Wichtigkeit der Dialoge und ich schöpfte wieder neue Hoffnung. Hoffnung, dass man auch im hohen Alter zufrieden sein kann. Ohne großen finanziellen Wohlstand, aber mit der Gewissheit … es ist Frieden … außen und in einem Selbst.

Irgendwann fuhr mein Zug. Wir hatten die Zeit vergessen. Ich trug erst gar keine Armbanduhr und mein Handyakku war schon seit dem Morgen leer. Also bat ich Hubert mich einen Blick auf seine Uhr werfen zu lassen, doch diese war bereits vor ein paar Tagen um 10:25 Uhr stehen geblieben. Er reichte mir sein Handy. 14:01 Uhr.

Hubert bestand darauf mich zum Bahnhof zu bringen. Wir gingen noch mal zurück zum Bundeskanzleramt, versuchten in den Fenstern neugierig etwas zu erspähen. „Schade, dass sie nicht da ist. Wir drei hätten uns gut verstanden!“ platzte es aus Hubert heraus und er fügte feixend hinzu: „Du weißt ja – wir Spinner!“ Das Regierungsviertel, sowie das Bahnhofsgelände waren mittlerweile fast komplett polizeilich abgeriegelt. Vermutlich aufgrund mehrerer Demonstrationen. Hubert und ich fanden den Grund nicht mehr heraus, doch als wir uns auf der Moltkebrücke voneinander verabschiedeten, drehte er sich noch mal um und sagte mit einem Wink Richtung Kanzleramt:

„Mach Dir keine Sorgen! Sie macht das gut. Alles was wir heute haben, haben wir nur, weil in den Generationen vor uns Menschen gelebt haben, über die man sagte: Spinner! Und … wenn Du ein Buch geschrieben hast … schick´s mir!“ … und dann verschwand Hubert in der Menschenmenge.

Als ich das Bahnhofsgebäude erreicht hatte, blickte ich auf eine der großen Bahnhofsuhren. 13:45 Uhr. 13:45 Uhr? Auf Huberts Handy war es doch bereits 14:01 Uhr? Sein Handy war wohl noch auf Sommerzeit eingestellt. Was für ein zeitloser & herzwarmer Spinner!

Über manche Blogthemen denkt man tagelang nach und dann schreibt das Leben sie doch einfach von selbst.

 

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