Ich bin ein (Teilzeit-)Schulkind des Ostens. 1986 wurde ich in einem kleinen Dorf nahe Dresden eingeschult, folglich zum Jungpionier ernannt und im System der damaligen DDR zu einem strebsamen und gehorsamen Schüler erzogen. Wir steckten uns Nelken ins Knopfloch, sangen Volkslieder und schnitten, zur Dokumentation der Regierung Honeckers, Zeitungsartikel aus und klebten diese geradlinig ins Sammelalbum. Später in Bayern klebten wir auch, nur waren es da glitzernde Tiermotive mit Wackelaugen oder tropfende Eistüten, die im Stickersammelalbum auf ihren Tausch mit Marie-Claire aus der 6c warteten.
24 Schülerinnen und Schüler umfasste damals die ostdeutsche Klassengemeinschaft plus eine Klassenlehrerin. Am 11.03.2017, ganze 31 Jahre nach unserer Einschulung, trafen sich 21 Schülerinnen und Schüler plus 2 Klassenlehrerinnen, zum großen Zuckertüten-Revival, auf dem Pausenhof des Schulgeländes wieder. Was für ein Wiedersehen!
Ich gebe zu, die Klassentreffen der letzten Jahre habe ich immer unentschuldigt gefehlt. Sagen wir mal so, da war das Leben dazwischen.
Wir schüttelten zur Begrüßung Hände und umarmten uns. Wir sahen uns in die Augen und suchten darin nach gemeinsamen Erinnerungen. Wir stellten uns Fragen und gaben Antworten. Wir malten unser Leben in die Welt der anderen. Unsere Klassenlehrerin von einst hatte dafür besonders schöne Farben. Sie wollte nicht, dass wir uns ihr vorstellen, sondern sie hatte sich vorab alle Unterlagen rausgesucht und sich unsere Gesichter verinnerlicht. So gelang es ihr tatsächlich, jeden Einzelnen mit seinem Namen zu begrüßen. Und dachte man damals, in seiner kindlichen Wahrnehmung, die „Frau Lehrerin“, wäre früher schon uralt gewesen, dann ist sie es selbst heute noch nicht.
Nach Jahrzehnten ging die Tür zum Schulgebäude auf und mein Geruchszentrum erinnerte sich sofort. Hier roch es wie Früher und es war dieser Geruch, den Du niemals beschreiben könntest, aber der untrennbar mit der Schulzeit von einst verbunden ist. Es roch nach Schule. Nach Geschichte. Nach Kinderlachen und dem Ernst des Lebens.
Wir blätterten in alten Schulbüchern, saßen in winzigen Schulbänken, erinnerten uns an den Ordnungsdienst, Gruppenräte und das „Seid bereit – immer bereit“ der Vergangenheit. Da war eine Vertrautheit, ein Gefühl von einem großen Miteinander, einer Gemeinschaft und einer Lehrerin, der jeder Einzelne mit Respekt begegnete. Und so kam es zu einer besonderen Begebenheit. Wir waren gerade in der Turnhalle angekommen, als uns Frau R. höflich bat, die Schuhe auszuziehen. Keiner entgegnete ihr in diesem Augenblick ein aufmüpfiges „Warum?“ oder ein maulendes „Nee, die Schnürsenkel lassen sich so schwer binden!“ 21 Schülerinnen und Schüler im Alter von 36 oder 37 Jahren setzen sich unkommentiert hin und zogen ihre Schuhe aus. Der einstige Gehorsam von damals wurde zum aufrichtigen Respekt von heute.
Unser Klassentreffen endete am nächsten Morgen.