Die Uhr am Armaturenbrett zeigt 12:30 Uhr. Das Martinshorn hallt zwischen den Häuserwänden, während der Krankenwagen über das rumpelige Kopfsteinpflaster der Dresdner Altstadt rast. Es ist Mai 1980. Der Tag, an dem ich das Licht der Welt erblicke.
Historisches Licht, denn die Stadt ist voll von Schauplätzen der Zeitgeschichte. Dresden wird in den nächsten 9 Jahren mein Samstagszuhause sein. Jeden Samstag fahren wir mit unserem klapprigen blauen Trabi in die große Stadt. Rollen über Kopfsteinpflaster, vorbei am Zwiebelturm der Russisch-Orthodoxen Kirche und geparkt wird tagein tagaus in der Winckelmannstraße direkt am Bahnhof. Wir schlendern durchs Bahnhofsgebäude, die Prager Straße hinunter und weiter zur Elbe. Jeden Samstag kommen wir an der zerbombten Ruine der Frauenkirche vorbei. Jeden Samstag frage ich meinen Großvater: „Opa warum ist denn dieses Haus so kaputt?“ Jeden Samstag erzählt mir mein Großvater vom Krieg. Wir folgen der Augustusbrücke und bewundern den „Goldenen Reiter“. Jeden Samstag essen wir ein Eis in der Eckeisdiele auf der „Straße der Befreiung“. Ich mag Dresden. Hier bin ich geboren.
„Dresden – hier wurde die Schönheit erfunden. Nichts als Fluss und Wiesen – in zartesten Farben und märchenhaftem Licht.“
Johann Joachim Winckelmann, 1755
Nach dem Fall der Mauer verlässt meine Mutter mit mir Sachsen.
26 Jahre später lebe ich in Hamburg. Weit weg von Dresden. Weit weg vom Zwiebelturm, dem „Goldenen Reiter“ oder der Eisdiele. Doch ich blicke gerade in den letzten Tagen und Monaten immer wieder nach Dresden. Ich lese nicht alles was mir die Medien anbieten, aber doch viel. Ziehe mir Bilder der hasserfüllten Gesichter groß und bin erleichtert niemanden persönlich zu kennen. Ich versuche zu begreifen, was los ist mit den Menschen – mit den pöbelnden Sachsen – auf die das ganze Land mit Abscheu zeigt.
Wie alt sind sie? Wie leben sie? Wo waren sie als die Mauer fiel? Hat es damit überhaupt etwas zu tun?
Als die Mauer fiel und Deutschland zusammen wuchs, waren die Ossis darauf angewiesen, dass der Wessi mit ihnen teilte. Warum fällt es ihnen heute so schwer selbst zu teilen? – „Weil wir selbst nichts haben!“ wird ein Wutbürger jetzt vermutlich entgegnen. Weil wir selbst nichts haben?
Traurig blicke ich auf mein Dresden. Weil wir selbst nichts haben? Mir fällt tatsächlich etwas ein, was diese Unruhestiftenden Pöbler wirklich nicht haben: eine Perspektive.
Und weil eben diese Perspektive fehlt, wird die eigene Muttersprache strapaziert, als gäbe es kein Morgen mehr. Es wird gepöbelt, gehetzt, Autos brennen. Hurra. Und obwohl diese Menschen rein optisch aussehen wir jeder andere, erscheinen sie einem hässlicher.
Wie könnte denn so eine Perspektive aussehen? „Merkel muss weg!“ höre ich sie lautstark skandieren. Na und dann? Sind dann plötzlich alle Konten & Kühlschränke voll, alle Betten fein säuberlich gemacht, die Weste wieder rein und vor allem jeder Krieg beendet? Wohl nicht! Überhaupt nicht!
„Wenn es zutreffen sollte, dass ich nicht nur weiß, was schlimm und hässlich, sondern auch was schön ist, so verdanke ich diese Gabe dem Glück, in Dresden aufgewachsen zu sein.“
Erich Kästner